"Am
verständlichsten ist Bruckner da, wo er die Natur sprechen läßt. Gräflinger hat
auf das Natursinnige besonders hingewiesen. Wer hierfür Verständnis hat, der
wird auch die Wahrnehmung bestätigen, das nichts von Empfindelei im Ausdruck
von Bruckners Musik steckt: weder wo Geistiges und Seelisches, noch wo
Natürliches angedeutet wird. Nicht einmal jene an sich berechtigte Kunst, die
sich vorwiegend der Stimmung bedient, ist bei Bruckner zu Hause."
"Es ist zwar ziemlich still geworden mit dem zeitgenössischen
Urteil, Bruckner sei formlos und komponiere wie ein Betrunkener. Aber man neigt
augenblicklich immer noch dazu, und sogar begeisterte Freunde des Meisters sind
bereit, eine gewisse Freiheit, ein Schweifen der Einbildungskraft einzuräumen.
Natürlich bezöge sich diese Auffassung nicht auf den inneren Bau irgendeiner
Einheit: daß die einzelnen Bestandteile in sich meisterhaft geschlossen und
klar geformt sind, das leugnet nur Haß oder Unverstand. Vielmehr fragen wir
nach der Form als Folge innerhalb des großen Ganzen, besonders der Ecksätze.
Hier ist der
Musikalische Befund der, daß die Sonatenform genau so fachlich durchgebildet
erscheint wie bei Haydn, Beethoven oder Brahms. Jene Form geht darauf aus,
Gegensätze nacheinander, nicht mehr miteinander gleichzeitig zu bringen und
durch eine überlegte Folge zu höherer Einheit zu binden. Es läßt sich zwar
denken, daß manchem die geschlossenere Formgebung Bachs, wie sie zum Beispiel
auch in der zwingenden Folgerichtigkeit des Lohengrin oder Tristanvorspiels
herrcht, meehr zusagt und unmittelbarer einleuchtet. Wenn wir aber die
Gegensätzlichkeit größerer Formen, zum Beispiel auch des
Meistersingervorspiels, gelten lassen, dann können wir sie nicht bei diesem
Meister bewundern, bei einem andern tadeln."
Zu Kürzungen bei
Aufführungen
"Doch beschäftigt uns hier nicht sowohl die
Programmfrage, als die leidige Gewohnheit der Kürzungen. In Aachen hat Raabe im
Januar 1922 die Achte ungekürzt aufgeführt: eine der größten Seltenheiten! Bei
Herausgabe der Symphonien sind mitunter, gerade in der Achten, Striche als
erlaubt angegeben worden; man mag sich denken, wie schmerzlich Bruckner seine
Einwilligung gab - falls man sie überhaupt einholte! (1887 waren erst die Dritte,
Vierte, Siebte gedruckt, welche keine Striche enthalten). Nach Louis (1)
ist es auch vorgekommen, daß man in seine druckfertigen Entwürfe eingriff. Die
besten Absichten können dies nicht entschuldigen. Gesetzt, Bruckner wäre
wirklich formschwach, so bleibt es erst recht unsinnig, ihn durch Striche zu
stärken; denn die Absicht, Bruckners Schwäche zu erweisen, würde am
zweckmäßigten dadurch erreicht, daß man seine Torheiten nicht abkürzte."
Zum Tempo
"Zu den üblichen Entstellungen gehört außer Strichen die
mangelnde Durchlüftung des großen Zusammenhangs: wo dieser kein einheitlicher
Atem durchweht, bleibt die Wiedergabe das Beste schuldig. Überlegte und gut
festgehaltene Zeitmaße müssen das Gefüge auch der kleinsten Teile regeln. Oft
wird ein Adagio sinnlos breitgewalzt, ein Allegro überkugelt. Unbeethovenisch
ist die Neigung, bei Anschwellung und Steigerung zu eilen, jede Abnahme zu
verlangsamen. Wir sehen gerade darin, daß Bruckner durch jene Gewohnheit
enstellt wird, einen Beweis für die Folgerichtigkeit seines Denkens.Die Fülle
der angewandten Mittel legt bei seiner Steigerung gerade das Gegenteil von Eile
und Hast nahe. Auch sonst empfiehlt es sich, den letzten Ausschlag im Zeitmaß
eher nach Seite des Ruhigen zu geben, weil Bruckner über dem lebendigen
Eindruck die tatsächtlichen Bewegungen der Töne nicht ganz vergessen läßt.
...
Ebenso schadet Unruhe und überflüssige Aufregung den Herrlichen, echt
mozartisch empfundenen Mittelstimmen, von denen man oft verdrießlich wenig zu
hören bekommt. Mit Hervorhebung einer Hauptmelodie ist bei Bruckners Art von
Mehrstimmigkeit nicht alles getan.
...
Am meisten aber leidet Bruckner darunter, daß ihn die Stabführer nicht
rhythmisch ernst genug nehmen.Innerhalb eines gegebenen Zusammenhangs waltet
das eingeschlagene zeitmaß und gibt der Einzelbewegung ihren Sinn; diese Musik
bedarf nicht, wie es sonst wohl der Fall sein mag, unaufhörlichen Wechsels
zwischen Tagen und Zerren, um ihre Wirkung zu tun. Sie hört sich viel
natürlicher an, wenn man ihr Zeitmaß nach alten vorildern in klassischem Geiste
nur dort abstuft, wo ein Neues eintritt, das wieder in seinen eigenen Grenzen
zusammengehört. Dies gilt sogar von den bewegten Achttaktern, mit denen die
Scherzosätze abschließen.Dagegen verdient überall bewußte Zurückhaltung der
kadenzierende Einschnitt, ehe die Haupttonart zum letztenmal gewonnen
wird."
Zur ersten Symphonie:
[Finale, Beschreibung der Exposition] "Mit einer kurzen Erinnerung
an den Anfang schließt die Entwicklung des Rohstoffs. Er wird nach der
Sonatenform gesetzmäßig verarbeitet. Ein angeblich erlaubter Strich (von wem?)
ist musikalisch ohne Sinn. Durchführung und Wiederholung müssen ihr Recht
haben.""Die Beurteilung der Eckteile wird übrigens dadurch erschwert,
daß die ursprüngliche Fassung noch nicht herausgegeben ist. das Werk wurde für
die Aufführung von 1891 umgearbeitet."
Zum Finale der zweiten
Symphonie:
"Wie die Herausgeber der Partitur bei dieser
einwandfrei übersichtlichen Gestaltung dazu kamen, durch einen Strich die
Verstümmelung der ganzen Wiederholung anzuraten., ist ein Rätsel."
Zum ersten Satz der achten
Symphonie:
"In der Achten tritt Kampf und Ringen
wieder urgewaltig als Ausdruck hervor, der die Haltung des Ganzen bestimmt.
Unwillkürlich denkt man immer an Prometheus oder Faust, die sich absichtlos in
solcher Musik zu verkörpern scheinen; auch der befreite Prometheus, der
verklärte, begnadete Faust wäre da. Der Schluß des Allegros könnte an die
Fesselung des Prometheus erinnern, und so etwas wie Gefängnisstimmung erklingt
auch aus der ermattenden Stelle am Schluße der Durchführung."
Zum Finale der achten
Symphonie:
"Mit jubelnden Vorschlagsfiguren begrüßen Streicher die
Fraftfülle des Bläserklangs. Unwiderstehlich ist die Gewalt, die sich hier
ankündigt: sie wird auch nach außen hin den Sieg erzwingen.Bei diesen erhabenen
Klängen mag man vielleicht an himmlische Heerscharen denken, wie sie auf
Bildern der Kunst einherziehen, an ein Messensanktus größten Stils. Wiederum
nach innen gekehrt holt das zweite tiefgreifende Thema die religiöse Grundkraft
hervor, die an den Choral anklingt, ohne ihn greifbar nachzubilden. Manches
berührt wie ein Gebet vor der Schlacht. Der erregte Aufmarsch der dritten
Gruppe läßt keinen Zweifel am Kampf, der sich zunächst kriegerisch
austobt."
Zweifel an der Fassung bei
der Reprise im Finale der Achten:
"Das zweite Thema - ursprünglich vielleicht
etwas länger ausgeführt - weicht bald dem dritten ..."
...
"Die bevorstehende wissenschaftliche Gesamtausgabe muß über den Umfang des
wiederholten zweiten Themas Aufklärung bringen; der Partiturstrich entfernt es
mit kapellmeisterliebe vollends ganz."
Zur Neunten Symphonie:
"Der zweite Bestandteil der Hauptgruppe [im
1. Satz] ist eine Wendung der Hörner nach Ces. Dieses herrliche Aufatmen, eine
Glanzstelle der Wiener Uraufführung von 1903, erquickt uns noch zweimal, zu
Beginn der Durchführung; es kennzeichnet die innere Größe des Werkes. Die
einzigartige Endwirkung des Allegros beruht darauf, daß eben jener Aufschwung
mißglückt."
"Unvergeßlich wird jedem, der die Uraufführung unter Löwe hörte, auch das
Scherzo geblieben sein; die Orchesterleiter im Reiche haben es, soviel ich
beurteilen kann, mit Ausnahme Pohligs, zu wenig ernst genommen, als handelte es
sich um ein romantisches Spiel mit üblichem Gespensterspuk. Dieser Rhytmus
fährt mit der Strenge apokalyptischer Reiter heran. Ein gleichmäßiger Schwung scheint
alle Motive an sich zu ziehen. Was sich an zarteren Regungen hervowagt, wird
verschlungen und einer Grundstimmung dienstbar gemacht, die den Wirbel des
geschehens erbarmungslos dreht. Es ist ein Humor, der seine überlegene Wirkung
vor allem der durchgreifenden Willenskraft verdankt.
Ein flug- oder pfeilschnelles Zeitmaß bleibt dem Trio aufgespart, dessen
Hauptteil keine behagliche erleichterung gewährt, sondern eine prickelnde
Hochspannung einschaltet, die eher an Berlioz als an Schubert gemahnt. Wie ein
trio im Trio sind allerdings die dreimal zwischentretenden ruhigeren Teile
gemütvollen Ausdrucks. Aber auch sie geben sich einer Beschwingtheit hin, die
zum Beispiel die Flötenfiguren des mittelsten Abschnittes flattern läßt. Die
Instrumentierung bringt die Holzbläser zur Geltung und gibt den gedämpften
Saiten gezupfte Begleitakkorde zu springendem Bogen. Die Ausführung ist
schwer."
Zum Höhepunkt im Adagio der Neunten:
"Das zweite Hauptthema (ohne den
Zwischenteil) bietet nun den Stoff zur großen endgültigen Steigerung, die ja
sonst vom ersten auszugehen pflegt. Dieses erscheint hier erst auf dem höchsten
Gipfel, doch keineswegs befreiend und beseligend, wie etwa in der Achten,
sondern im Banne ungeheilten Wehs, als Ausbruch, der an Furchtbarkeit kaum
seinesgleichen hat." [schon in der Bearbeitung von Löwe scheint dies
grosse Wirkung gehabt zu haben]
Biederstein Verlag,
München (1947)
Zu "Wesen und
Bedeutung"
S. 48,49
"Bruckners eigentlicher
Antipode ... ist als stärkster Vertreter des Individualismus: Beethoven. Man
hat das schon früh gefühlt. August Halm hat auf diesen Gegensatz ein ganzes
Buch gestellt, das sich allerdings im wesentlichen auf formale Untersuchngen
beschränkt, und auch die Dirigenten scheiden sich nach ihm: gute
Beethoven-Dirigenten sind selten gute Bruckner-Dirigenten und umgekehrt. Es ist
die Verschiedenheit ganzer Welten, die darin zum Ausdruck kommt. Die quelle,
aus der Beethovens Musik stammt, ist sein strürmisch-schlagendes,
feurig-pochendes Herz, für Bruckner ist es das All-Eine, hinter dem sein Ich
völlig zurücktritt oder besser gesagt, in das sein Ich völlig eingeht.
Beethoven geht vom Menschen, von der Menschenseele aus und monumentalisiert sie
derart, daß er die Welt zu füllen und umspannen scheint. Für Bruckner ist der
Mensch als solcher durchaus nicht der eigentliche Mittelpunkt, sondern der
gesamte Kosmos, den er vermenschlicht.
...
Beethoven sucht Erlösung für sich und die Menscheit im Reich des Idealen,
Bruckner steht in der Lösung mitten drin. Beethoven kündigt vom Göttlichen und
wird somit zum Prophet, Prediger, Redner, ja sogar Moralist; Bruckner stellt
das Göttliche dar, ist Pathiker, Organ und Sprachrohr des Höchsten. Beethovens
Musik ist als Bekenntnismusik bis zum Äußersten persönlich, Bruckners Musik ist
durch und durch überpersönlich."
Zu Tempo- und Dynamikangaben in den
"Originalfassungen"
S.114
Ähnliches gilt von den dynamischen und agogischen Änderungen; auch
hier wird überall die Tendenz zu Häufigem Wechsel, zur Milderung der Härten und
Lockerung der Formen erkennbar, während wir Bruckner immer bemüht sehen, die
rhythmischen und dynamischen Kräftespannungen in großen Bögen durchzuhalten.
Unbrucknerisch wirken besonders die ewigen Tempomodifikationen, die geeignet
sind, die einheitliche Linie des Gesamtflusses zu zerstückeln. Vergleicht man
nur einmal einen Symphoniensatz in den beiden Fassungen, so ist der
Unterschied in den Angaben für Temponahme wie für die Dynamik auch für den
musikalischen Laien auffällig genug: hier - in den Erstdrucken - eine Häufung
von Vorschriften des 'accelerando' und 'ritardando', des 'crescendo' und
'decrescendo', die ein stetes Unruheelement in den Ablauf hineintragen, dort -
in den Originalfassungen - ein unerbittliches Durchhalten desselben Tempos oft
auf sehr lange Strecken, wodurch natürlich die Bindung zwischen den einzelnen
Perioden und Satzgruppen eine unendlich strafere wird; und in Hinsicht der
Stärkegrade eine weitgehende Anwendung jener "Subitodynamik", die auf
die Technik der mehrmanueligen Orgel zurückgeht und die einzelnen Stärkegrade
unvermittelt, ohne an- oder abschwellende Angleichung gegeneinandersetzt.
Bruckners Größe erweist sich eben auch hierin allen Interpretationskünsten
gegenüber als weit überlegen."
Zu den "Problemen der Wiedergabe"
S. 121
"Wer die Jahrzehnte
erlebt hat, in denen seine Musik allmählich bekannter wurde, der hat es
erfahren, wie vielfach verfälschend trotz gutgemeinten Einsatzes man damals seine
Schöpfungen interpretierte, nur weil man über ihr wirkliches Wesen, über Sinn
und Bedeutung seiner Tonwelt so schlecht orientiert war. Wie hat man seine
Musik vergewaltigt, was für verrenkungen, Entstellungen hat sie sich gefallen
lassen müssen! Seine inbrünstigen Visionen hat man zu Temperamentsausbrüchen
schlimmster veristischer Färbung entwürdigt, seine innerlichsten Gebete als
hysterische Sehnsuchtskrämpfe ausgelegt, seine Zartheit in schwächliche
Ohnmacht, seine hehre Stärke in plumpe Roheit, seine heilige
Gottesentflammtheit in unheiligen Sinnenbrand verkehrt! Und das alles im Namen
der großen deutschen Kunst! Neben so manchem, was angesicht der allgemeinen
Ratlosigkeit fast erheiternd hätte stimmen können, war es eben doch
erschütternd zu erleben, wie eine entgötterte und unheilige Zeit sich arglos am
Hohen und Hehren zu vergreifen wagte und nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihm
mit der Geste der Unschuld den Stempel des Geistes aufzuprägen, den sie allein
zu fassen imstande war. Und nichts war für den, der Bruckner erkannt hatte,
mißlicher, als immer wieder sehen zu müssen, daß die Ausbreitung seiner Musik
sich teilweise in Formen vollzog, bei denen nur allzuhäufig der Sinn gerade in
den Gegensinn verkehrt wurde.
Nun gab es allerdings
einen kleinen Kreis berufener Bruckner-Dirigenten, die hier eine Ausnahme
bildeten, eben seine persönlichen Schüler und Jünger: Löwe, Schalk, Mottl,
Nikisch (mit und nach ihnen einige jüngere Gleichgesinnte); was sie in
selbstloser Aufopferung, in unerschrockenem Sicheinsetzen, in nie ermüdender
Pionierarbeit für Bruckner getan haben, dessen Werk sonst wahrscheinlich noch
länger auf seine Auferstehung hätte warten müssen, das gehört bereits der
Geschichte an."
Bruckners Musik gegen den Dirigierstil Hans von Bülows
S. 124
"... Und da zeigt
sich den bei näherem Zusehen, daß unsere Interpretationstechnik von heute einer
festumrissenen Tradition entsprungen ist, daß sie das Resultat einer
jahrzehntelangen Erziehung nach einer bestimmten Richtung hin darstellt. Am
Anfang dieser neuen Entwicklung steht der name Hans von Bülows. Er war es vor
allem, der zusammen mit Liszt und Wagner die Technik des Dirigierens auf das
Niveau gehoben hat, auf dem sie seit über einem halben Jahrhundert steht; ...
Statt eines mehr oder minder belebten, aber doch pedantisch gebundenen
Taktschlagens forderte er die freie Interpretation aus der absoluten
Beherschung des Werkes (womöglich ohne Partitur!) und der Berauschtheit des
Augenblicks ... so wurde ein Gestaltungsstil maßgebend und allbeherrschend,
dessen Prinzipien im wesentlichen dem Beethovenschen Werk abgewonen waren; ihn
eignete sich eine ganze Dirigentengeneration an, er ist uns in Fleisch und Blut
übergegangen.
...
Daß Bruckner, der als einziger im 19. Jahrhundert allem und jedem Subjektivistischen
streng Absage erteilte, ganz besonders darunter zu leiden hatte, ist nach dem
Gesagten ohne weiteres einleuchtend. Tatsache ist jedenfalls, daß kein
Tondichter seiner Zeit in diesen Jahrzehnten so häufig in unzulänglicher und
mißverstandener Form interpretiert worden ist wie gerade er, nur weil die Zeit
auf gänzlich anderes eingestellt war. Man konnte von führenden Dirigenten
ebenso einwandfreie Beethoven- wie mißglückte Bruckner-Aufführungen zu hören
bekommen. Sie litten alle, mehr oder minder, an demselben Fehler, einer
Übertragung des klassischen Beethoven- oder des Wagnerschen Opernstil auf die
Bruscknersche Symphonie.
... was die Brucknersche Musik von ihrem Interpreten verlangt, das ist eine
Hingabe an den objektiven Bau des Werkes, die auch nicht die leiseste Trübung
durch ein subjektiv-willkürliches Element mehr duldet. Neben den subjektiven
Temperamentsdirigenten muß der objektive Architektoniker treten. Hier werden
und sollen sich die Dirigenten scheiden; selten wird einer beide Stile in sich
vereinen (eine Ausnahme war Artur Nikisch, obwohl er bei Bruckner doch hinter
Löwe zurückstand).
Zum Tempo
S. 128
"Erstes Erfordernis für die Wiedergabe ist, daß die beiden
Grundprinzipien der Brucknerschen Musik, die, wie wir gesehen haben, die Tendenz
nach gewaltiger Raumschaffung und die Gerichtetheit in der Zeit sind, in ihrer
gegenseitigen Bedingtheit zu ihrer vollen Auswirkung kommen... Da die Klassiker
die Raumentfaltung zugunsten der Zeittendenz vernachlässigten, ist ein
Überbetonen der letzteren fast immer die Regel; man sieht, da man es nicht
anders gewohnt ist, fast nur das zeitfunktionelle, hastet diesem allein nach,
wodurch das Zustandekommen der Raumentwicklung, ohne die eine brucknersche
Symphonie ein verschrobenes Gebilde bleibt, verlorengeht.
'Viel zu schnell', damit könnte das Urteil über Zahlreiche
Bruckner-Aufführungen beginnen - und schließen, denn damit ist es auch bereits
gesprochen.Wer hhier fehlt, fehlt am Grudsätzlichsten, vergreift sich am Atem
und Pulsschlag der Musik und wird es die ganze Symphonie hindurch nicht mehr
gutmachen können. Man verwechselt immer noch Beethovensche und brucknersche
'Allegros' - schade, daß Bruckner diese irreführende Bezeichnung überhaupt
gebraucht hat. Aber wie lauten denn seine sonstigen Bezeichnungen: 'sehr
ruhig', 'sehr feierlich', 'molto moderato', 'maestoso' usw. Das hätte doch
stützig machen müssen. Tatsächtlich sind alle Allegrosätze (mit Ausnahme der
Scherzi, die aber ebenfalls ein ruhigeres Tempo vertragen) als
"getragene" Sätze gedacht, die mit großer Feierlichkeit vorzutragen
sind. Alles Hinstürmende, Wilde, Aufgeregte als bloße leidenschaftliche
Affekterregung ist zu vermeiden, ja schon jede Schwankung in dem großen Aus-
und Einatmen dieser Musik, das ist, wie das gleichmäßige Fluten des Meeres,
jede kleine Aberration etwa zugunsten eines dann überbetonten und
herausfallenden Einzelrhythmischen zeitigt katastrophale Folgen. Da gibt es
nichts als ein strenges, durch nichts beirrbares, wenngleich natürlich
nicht schematisches Durchalten dieses Grundrhythmus, auf dem alle Spannungen
beruhen, oder ein Versagen auf der ganzen Linie. Bruckner selbst hat in seiner
offenen, aber leider zu wenig rigorosen Art einmal gemahnt; 'Daß er's mir ja
net zu schnell nimmt, meine Sachen vertragen amal ka schnell's Tempo'. Man kann
Bruckner kaum ruhig genug nehmen- ruhig bedeutet ein inneres, kein äusseres
Tempo - immer vorausgesetzt, daß die Spannungen dadurch nicht abgeschwächt,
sondern im Gegenteil gesteigert werden. Allerdings muß in dem Grade, in dem die
Spannungen sich vergrößern, die präzision aller Einsätze (abgestoßene
Sechzehntel usw.) wachsen, ja geradezu unerbittlich genau werden; sonst ist ein
Durchhalten bis zum Schluß unmöglich. Ich habe die Erfahrung gemacht,
daß, je langsamer ich mit den Jahren das Tempo halten konnte, ich desto größere
Wirksamkeit aus allen Themen und Entwicklungen herausholen konnte."
"Nirgends wird das Fehlgreifen der Dirigenten in dieser Hinsicht so
deutlich wie bei den großen Kraftsteigerungen Bruckners; sie sind von jeher ein
Tummelplatz der wildesten Temperamentausbrüche, der tollsten Affektenladungen
gewesen und sind es heute noch."
© 2004 Lionel Tacchini