Zitate aus der frühen Bruckner-Literatur

 


Hier werden Zitate aus der Bruckner-Literatur angeboten, die über die Rezeption von Bruckners Musik und ihre Aufführungspraxis im Laufe der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts auskunft geben. Gelegentlich werden auch frühe Anmerkungen oder Andeutungen zur Fassungsthematik wiedergegeben, sowie welche, die sich auf spezifische Merkmale der Erstdruckfassungen beziehen.

 

Ich bin jederzeit für Texte aus der Zeit vor 1950 dankbar, insbesondere für Artikel oder Rezensionen  über die Aufführung von Bruckners Werken.


This page provides quotes from the early Bruckner literature relating to the reception and performance practice of Bruckner's music in the first half of the 20th century. Remarks or hints about version issues as well as specific features of the first printed scores are also reproduced.

 


I would be grateful for further text material from the pre-1950 period, especially for reviews or articles about concert performances of Bruckner's music.

Lionel Tacchini

 

Eine Bruckner-Bibliographie

 

 

  1. Kark Grunsky, "Anton Bruckner", 1922
  2. Oskar Lang, "Anton Bruckner - Wesen und Bedeutung" 1924/42
  3. Links zu weiteren Texten

Kark Grunsky, "Anton Bruckner", 1922

F. Engelhorns Nachf. Stuttgart

Zum Ausdruck

Kap. 2, S.18

"Am verständlichsten ist Bruckner da, wo er die Natur sprechen läßt. Gräflinger hat auf das Natursinnige besonders hingewiesen. Wer hierfür Verständnis hat, der wird auch die Wahrnehmung bestätigen, das nichts von Empfindelei im Ausdruck von Bruckners Musik steckt: weder wo Geistiges und Seelisches, noch wo Natürliches angedeutet wird. Nicht einmal jene an sich berechtigte Kunst, die sich vorwiegend der Stimmung bedient, ist bei Bruckner zu Hause."

 

Zur Form:

Kap. 3, S. 25

"Es ist zwar ziemlich still geworden mit dem zeitgenössischen Urteil, Bruckner sei formlos und komponiere wie ein Betrunkener. Aber man neigt augenblicklich immer noch dazu, und sogar begeisterte Freunde des Meisters sind bereit, eine gewisse Freiheit, ein Schweifen der Einbildungskraft einzuräumen. Natürlich bezöge sich diese Auffassung nicht auf den inneren Bau irgendeiner Einheit: daß die einzelnen Bestandteile in sich meisterhaft geschlossen und klar geformt sind, das leugnet nur Haß oder Unverstand. Vielmehr fragen wir nach der Form als Folge innerhalb des großen Ganzen, besonders der Ecksätze.

Hier ist der Musikalische Befund der, daß die Sonatenform genau so fachlich durchgebildet erscheint wie bei Haydn, Beethoven oder Brahms. Jene Form geht darauf aus, Gegensätze nacheinander, nicht mehr miteinander gleichzeitig zu bringen und durch eine überlegte Folge zu höherer Einheit zu binden. Es läßt sich zwar denken, daß manchem die geschlossenere Formgebung Bachs, wie sie zum Beispiel auch in der zwingenden Folgerichtigkeit des Lohengrin oder Tristanvorspiels herrcht, meehr zusagt und unmittelbarer einleuchtet. Wenn wir aber die Gegensätzlichkeit größerer Formen, zum Beispiel auch des Meistersingervorspiels, gelten lassen, dann können wir sie nicht bei diesem Meister bewundern, bei einem andern tadeln."

Zu Kürzungen bei Aufführungen

Kap. 4, S. 47

"Doch beschäftigt uns hier nicht sowohl die Programmfrage, als die leidige Gewohnheit der Kürzungen. In Aachen hat Raabe im Januar 1922 die Achte ungekürzt aufgeführt: eine der größten Seltenheiten! Bei Herausgabe der Symphonien sind mitunter, gerade in der Achten, Striche als erlaubt angegeben worden; man mag sich denken, wie schmerzlich Bruckner seine Einwilligung gab - falls man sie überhaupt einholte! (1887 waren erst die Dritte, Vierte, Siebte gedruckt, welche keine Striche enthalten). Nach Louis (1) ist es auch vorgekommen, daß man in seine druckfertigen Entwürfe eingriff. Die besten Absichten können dies nicht entschuldigen. Gesetzt, Bruckner wäre wirklich formschwach, so bleibt es erst recht unsinnig, ihn durch Striche zu stärken; denn die Absicht, Bruckners Schwäche zu erweisen, würde am zweckmäßigten dadurch erreicht, daß man seine Torheiten nicht abkürzte."

(1) Rudolph Louis, Anton Bruckner, 1904

 

 

Zum Tempo

Kap. 4, S. 48

"Zu den üblichen Entstellungen gehört außer Strichen die mangelnde Durchlüftung des großen Zusammenhangs: wo dieser kein einheitlicher Atem durchweht, bleibt die Wiedergabe das Beste schuldig. Überlegte und gut festgehaltene Zeitmaße müssen das Gefüge auch der kleinsten Teile regeln. Oft wird ein Adagio sinnlos breitgewalzt, ein Allegro überkugelt. Unbeethovenisch ist die Neigung, bei Anschwellung und Steigerung zu eilen, jede Abnahme zu verlangsamen. Wir sehen gerade darin, daß Bruckner durch jene Gewohnheit enstellt wird, einen Beweis für die Folgerichtigkeit seines Denkens.Die Fülle der angewandten Mittel legt bei seiner Steigerung gerade das Gegenteil von Eile und Hast nahe. Auch sonst empfiehlt es sich, den letzten Ausschlag im Zeitmaß eher nach Seite des Ruhigen zu geben, weil Bruckner über dem lebendigen Eindruck die tatsächtlichen Bewegungen der Töne nicht ganz vergessen läßt.
...
Ebenso schadet Unruhe und überflüssige Aufregung den Herrlichen, echt mozartisch empfundenen Mittelstimmen, von denen man oft verdrießlich wenig zu hören bekommt. Mit Hervorhebung einer Hauptmelodie ist bei Bruckners Art von Mehrstimmigkeit nicht alles getan.
...
Am meisten aber leidet Bruckner darunter, daß ihn die Stabführer nicht rhythmisch ernst genug nehmen.Innerhalb eines gegebenen Zusammenhangs waltet das eingeschlagene zeitmaß und gibt der Einzelbewegung ihren Sinn; diese Musik bedarf nicht, wie es sonst wohl der Fall sein mag, unaufhörlichen Wechsels zwischen Tagen und Zerren, um ihre Wirkung zu tun. Sie hört sich viel natürlicher an, wenn man ihr Zeitmaß nach alten vorildern in klassischem Geiste nur dort abstuft, wo ein Neues eintritt, das wieder in seinen eigenen Grenzen zusammengehört. Dies gilt sogar von den bewegten Achttaktern, mit denen die Scherzosätze abschließen.Dagegen verdient überall bewußte Zurückhaltung der kadenzierende Einschnitt, ehe die Haupttonart zum letztenmal gewonnen wird."

 

Zur ersten Symphonie:

Kap. 5, S. 55

[Finale, Beschreibung der Exposition] "Mit einer kurzen Erinnerung an den Anfang schließt die Entwicklung des Rohstoffs. Er wird nach der Sonatenform gesetzmäßig verarbeitet. Ein angeblich erlaubter Strich (von wem?) ist musikalisch ohne Sinn. Durchführung und Wiederholung müssen ihr Recht haben.""Die Beurteilung der Eckteile wird übrigens dadurch erschwert, daß die ursprüngliche Fassung noch nicht herausgegeben ist. das Werk wurde für die Aufführung von 1891 umgearbeitet."

 

Zum Finale der zweiten Symphonie:

Kap. 5, S. 59

"Wie die Herausgeber der Partitur bei dieser einwandfrei übersichtlichen Gestaltung dazu kamen, durch einen Strich die Verstümmelung der ganzen Wiederholung anzuraten., ist ein Rätsel."

Zum ersten Satz der achten Symphonie:

Kap. 5, S. 86

"In der Achten tritt Kampf und Ringen wieder urgewaltig als Ausdruck hervor, der die Haltung des Ganzen bestimmt. Unwillkürlich denkt man immer an Prometheus oder Faust, die sich absichtlos in solcher Musik zu verkörpern scheinen; auch der befreite Prometheus, der verklärte, begnadete Faust wäre da. Der Schluß des Allegros könnte an die Fesselung des Prometheus erinnern, und so etwas wie Gefängnisstimmung erklingt auch aus der ermattenden Stelle am Schluße der Durchführung."

Zum Finale der achten Symphonie:

Kap. 5, S. 91

"Mit jubelnden Vorschlagsfiguren begrüßen Streicher die Fraftfülle des Bläserklangs. Unwiderstehlich ist die Gewalt, die sich hier ankündigt: sie wird auch nach außen hin den Sieg erzwingen.Bei diesen erhabenen Klängen mag man vielleicht an himmlische Heerscharen denken, wie sie auf Bildern der Kunst einherziehen, an ein Messensanktus größten Stils. Wiederum nach innen gekehrt holt das zweite tiefgreifende Thema die religiöse Grundkraft hervor, die an den Choral anklingt, ohne ihn greifbar nachzubilden. Manches berührt wie ein Gebet vor der Schlacht. Der erregte Aufmarsch der dritten Gruppe läßt keinen Zweifel am Kampf, der sich zunächst kriegerisch austobt."

Zweifel an der Fassung bei der Reprise im Finale der Achten:

Kap. 5, S. 92 & 93

"Das zweite Thema - ursprünglich vielleicht etwas länger ausgeführt - weicht bald dem dritten ..."
...
"Die bevorstehende wissenschaftliche Gesamtausgabe muß über den Umfang des wiederholten zweiten Themas Aufklärung bringen; der Partiturstrich entfernt es mit kapellmeisterliebe vollends ganz."

Zur Neunten Symphonie:

Kap. 5, S. 94 & 95

"Der zweite Bestandteil der Hauptgruppe [im 1. Satz] ist eine Wendung der Hörner nach Ces. Dieses herrliche Aufatmen, eine Glanzstelle der Wiener Uraufführung von 1903, erquickt uns noch zweimal, zu Beginn der Durchführung; es kennzeichnet die innere Größe des Werkes. Die einzigartige Endwirkung des Allegros beruht darauf, daß eben jener Aufschwung mißglückt."

"Unvergeßlich wird jedem, der die Uraufführung unter Löwe hörte, auch das Scherzo geblieben sein; die Orchesterleiter im Reiche haben es, soviel ich beurteilen kann, mit Ausnahme Pohligs, zu wenig ernst genommen, als handelte es sich um ein romantisches Spiel mit üblichem Gespensterspuk. Dieser Rhytmus fährt mit der Strenge apokalyptischer Reiter heran. Ein gleichmäßiger Schwung scheint alle Motive an sich zu ziehen. Was sich an zarteren Regungen hervowagt, wird verschlungen und einer Grundstimmung dienstbar gemacht, die den Wirbel des geschehens erbarmungslos dreht. Es ist ein Humor, der seine überlegene Wirkung vor allem der durchgreifenden Willenskraft verdankt.
Ein flug- oder pfeilschnelles Zeitmaß bleibt dem Trio aufgespart, dessen Hauptteil keine behagliche erleichterung gewährt, sondern eine prickelnde Hochspannung einschaltet, die eher an Berlioz als an Schubert gemahnt. Wie ein trio im Trio sind allerdings die dreimal zwischentretenden ruhigeren Teile gemütvollen Ausdrucks. Aber auch sie geben sich einer Beschwingtheit hin, die zum Beispiel die Flötenfiguren des mittelsten Abschnittes flattern läßt. Die Instrumentierung bringt die Holzbläser zur Geltung und gibt den gedämpften Saiten gezupfte Begleitakkorde zu springendem Bogen. Die Ausführung ist schwer."

Zum Höhepunkt im Adagio der Neunten:

Kap. 5, S. 98

"Das zweite Hauptthema (ohne den Zwischenteil) bietet nun den Stoff zur großen endgültigen Steigerung, die ja sonst vom ersten auszugehen pflegt. Dieses erscheint hier erst auf dem höchsten Gipfel, doch keineswegs befreiend und beseligend, wie etwa in der Achten, sondern im Banne ungeheilten Wehs, als Ausbruch, der an Furchtbarkeit kaum seinesgleichen hat." [schon in der Bearbeitung von Löwe scheint dies grosse Wirkung gehabt zu haben]

 

Oskar Lang, "Anton Bruckner - Wesen und Bedeutung" 1924/42

Biederstein Verlag, München (1947)

Zu "Wesen und Bedeutung"

S. 48,49

"Bruckners eigentlicher Antipode ... ist als stärkster Vertreter des Individualismus: Beethoven. Man hat das schon früh gefühlt. August Halm hat auf diesen Gegensatz ein ganzes Buch gestellt, das sich allerdings im wesentlichen auf formale Untersuchngen beschränkt, und auch die Dirigenten scheiden sich nach ihm: gute Beethoven-Dirigenten sind selten gute Bruckner-Dirigenten und umgekehrt. Es ist die Verschiedenheit ganzer Welten, die darin zum Ausdruck kommt. Die quelle, aus der Beethovens Musik stammt, ist sein strürmisch-schlagendes, feurig-pochendes Herz, für Bruckner ist es das All-Eine, hinter dem sein Ich völlig zurücktritt oder besser gesagt, in das sein Ich völlig eingeht. Beethoven geht vom Menschen, von der Menschenseele aus und monumentalisiert sie derart, daß er die Welt zu füllen und umspannen scheint. Für Bruckner ist der Mensch als solcher durchaus nicht der eigentliche Mittelpunkt, sondern der gesamte Kosmos, den er vermenschlicht.
...
Beethoven sucht Erlösung für sich und die Menscheit im Reich des Idealen, Bruckner steht in der Lösung mitten drin. Beethoven kündigt vom Göttlichen und wird somit zum Prophet, Prediger, Redner, ja sogar Moralist; Bruckner stellt das Göttliche dar, ist Pathiker, Organ und Sprachrohr des Höchsten. Beethovens Musik ist als Bekenntnismusik bis zum Äußersten persönlich, Bruckners Musik ist durch und durch überpersönlich."

Zu Tempo- und Dynamikangaben in den "Originalfassungen"

S.114

Ähnliches gilt von den dynamischen und agogischen Änderungen; auch hier wird überall die Tendenz zu Häufigem Wechsel, zur Milderung der Härten und Lockerung der Formen erkennbar, während wir Bruckner immer bemüht sehen, die rhythmischen und dynamischen Kräftespannungen in großen Bögen durchzuhalten. Unbrucknerisch wirken besonders die ewigen Tempomodifikationen, die geeignet sind, die einheitliche Linie des Gesamtflusses zu zerstückeln. Vergleicht man nur einmal  einen Symphoniensatz in den beiden Fassungen, so ist der Unterschied in den Angaben für Temponahme wie für die Dynamik auch für den musikalischen Laien auffällig genug: hier - in den Erstdrucken - eine Häufung von Vorschriften des 'accelerando' und 'ritardando', des 'crescendo' und 'decrescendo', die ein stetes Unruheelement in den Ablauf hineintragen, dort - in den Originalfassungen - ein unerbittliches Durchhalten desselben Tempos oft auf sehr lange Strecken, wodurch natürlich die Bindung zwischen den einzelnen Perioden und Satzgruppen eine unendlich strafere wird; und in Hinsicht der Stärkegrade eine weitgehende Anwendung jener "Subitodynamik", die auf die Technik der mehrmanueligen Orgel zurückgeht und die einzelnen Stärkegrade unvermittelt, ohne an- oder  abschwellende Angleichung gegeneinandersetzt. Bruckners Größe erweist sich eben auch hierin allen Interpretationskünsten gegenüber als weit überlegen."

Zu den "Problemen der Wiedergabe"

S. 121

"Wer die Jahrzehnte erlebt hat, in denen seine Musik allmählich bekannter wurde, der hat es erfahren, wie vielfach verfälschend trotz gutgemeinten Einsatzes man damals seine Schöpfungen interpretierte, nur weil man über ihr wirkliches Wesen, über Sinn und Bedeutung seiner Tonwelt so schlecht orientiert war. Wie hat man seine Musik vergewaltigt, was für verrenkungen, Entstellungen hat sie sich gefallen lassen müssen! Seine inbrünstigen Visionen hat man zu Temperamentsausbrüchen schlimmster veristischer Färbung entwürdigt, seine innerlichsten Gebete als hysterische Sehnsuchtskrämpfe ausgelegt, seine Zartheit in schwächliche Ohnmacht, seine hehre Stärke in plumpe Roheit, seine heilige Gottesentflammtheit in unheiligen Sinnenbrand verkehrt! Und das alles im Namen der großen deutschen Kunst! Neben so manchem, was angesicht der allgemeinen Ratlosigkeit fast erheiternd hätte stimmen können, war es eben doch erschütternd zu erleben, wie eine entgötterte und unheilige Zeit sich arglos am Hohen und Hehren zu vergreifen wagte und nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihm mit der Geste der Unschuld den Stempel des Geistes aufzuprägen, den sie allein zu fassen imstande war. Und nichts war für den, der Bruckner erkannt hatte, mißlicher, als immer wieder sehen zu müssen, daß die Ausbreitung seiner Musik sich teilweise in Formen vollzog, bei denen nur allzuhäufig der Sinn gerade in den Gegensinn verkehrt wurde.

Nun gab es allerdings einen kleinen Kreis berufener Bruckner-Dirigenten, die hier eine Ausnahme bildeten, eben seine persönlichen Schüler und Jünger: Löwe, Schalk, Mottl, Nikisch (mit und nach ihnen einige jüngere Gleichgesinnte); was sie in selbstloser Aufopferung, in unerschrockenem Sicheinsetzen, in nie ermüdender Pionierarbeit für Bruckner getan haben, dessen Werk sonst wahrscheinlich noch länger auf seine Auferstehung hätte warten müssen, das gehört bereits der Geschichte an."

Bruckners Musik gegen den Dirigierstil Hans von Bülows

S. 124

"... Und da zeigt sich den bei näherem Zusehen, daß unsere Interpretationstechnik von heute einer festumrissenen Tradition entsprungen ist, daß sie das Resultat einer jahrzehntelangen Erziehung nach einer bestimmten Richtung hin darstellt. Am Anfang dieser neuen Entwicklung steht der name Hans von Bülows. Er war es vor allem, der zusammen mit Liszt und Wagner die Technik des Dirigierens auf das Niveau gehoben hat, auf dem sie seit über einem halben Jahrhundert steht; ... Statt eines mehr oder minder belebten, aber doch pedantisch gebundenen Taktschlagens forderte er die freie Interpretation aus der absoluten Beherschung des Werkes (womöglich ohne Partitur!) und der Berauschtheit des Augenblicks ... so wurde ein Gestaltungsstil maßgebend und allbeherrschend, dessen Prinzipien im wesentlichen dem Beethovenschen Werk abgewonen waren; ihn eignete sich eine ganze Dirigentengeneration an, er ist uns in Fleisch und Blut übergegangen.
...
Daß Bruckner, der als einziger im 19. Jahrhundert allem und jedem Subjektivistischen streng Absage erteilte, ganz besonders darunter zu leiden hatte, ist nach dem Gesagten ohne weiteres einleuchtend. Tatsache ist jedenfalls, daß kein Tondichter seiner Zeit in diesen Jahrzehnten so häufig in unzulänglicher und mißverstandener Form interpretiert worden ist wie gerade er, nur weil die Zeit auf gänzlich anderes eingestellt war. Man konnte von führenden Dirigenten ebenso einwandfreie Beethoven- wie mißglückte Bruckner-Aufführungen zu hören bekommen. Sie litten alle, mehr oder minder, an demselben Fehler, einer Übertragung des klassischen Beethoven- oder des Wagnerschen Opernstil auf die Bruscknersche Symphonie.
... was die Brucknersche Musik von ihrem Interpreten verlangt, das ist eine Hingabe an den objektiven Bau des Werkes, die auch nicht die leiseste Trübung durch ein subjektiv-willkürliches Element mehr duldet. Neben den subjektiven Temperamentsdirigenten muß der objektive Architektoniker treten. Hier werden und sollen sich die Dirigenten scheiden; selten wird einer beide Stile in sich vereinen (eine Ausnahme war Artur Nikisch, obwohl er bei Bruckner doch hinter Löwe zurückstand).

Zum Tempo

S. 128

"Erstes Erfordernis für die Wiedergabe ist, daß die beiden Grundprinzipien der Brucknerschen Musik, die, wie wir gesehen haben, die Tendenz nach gewaltiger Raumschaffung und die Gerichtetheit in der Zeit sind, in ihrer gegenseitigen Bedingtheit zu ihrer vollen Auswirkung kommen... Da die Klassiker die Raumentfaltung zugunsten der Zeittendenz vernachlässigten, ist ein Überbetonen der letzteren fast immer die Regel; man sieht, da man es nicht anders gewohnt ist, fast nur das zeitfunktionelle, hastet diesem allein nach, wodurch das Zustandekommen der Raumentwicklung, ohne die eine brucknersche Symphonie ein verschrobenes Gebilde bleibt, verlorengeht.
'Viel zu schnell', damit könnte das Urteil über Zahlreiche Bruckner-Aufführungen beginnen - und schließen, denn damit ist es auch bereits gesprochen.Wer hhier fehlt, fehlt am Grudsätzlichsten, vergreift sich am Atem und Pulsschlag der Musik und wird es die ganze Symphonie hindurch nicht mehr gutmachen können. Man verwechselt immer noch Beethovensche und brucknersche 'Allegros' - schade, daß Bruckner diese irreführende Bezeichnung überhaupt gebraucht hat. Aber wie lauten denn seine sonstigen Bezeichnungen: 'sehr ruhig', 'sehr feierlich', 'molto moderato', 'maestoso' usw. Das hätte doch stützig machen müssen. Tatsächtlich sind alle Allegrosätze (mit Ausnahme der Scherzi, die aber ebenfalls ein ruhigeres Tempo vertragen) als "getragene" Sätze gedacht, die mit großer Feierlichkeit vorzutragen sind. Alles Hinstürmende, Wilde, Aufgeregte als bloße leidenschaftliche Affekterregung ist zu vermeiden, ja schon jede Schwankung in dem großen Aus- und Einatmen dieser Musik, das ist, wie das gleichmäßige Fluten des Meeres, jede kleine Aberration etwa zugunsten eines dann überbetonten und herausfallenden Einzelrhythmischen zeitigt katastrophale Folgen. Da gibt es nichts als ein  strenges, durch nichts beirrbares, wenngleich natürlich nicht schematisches Durchalten dieses Grundrhythmus, auf dem alle Spannungen beruhen, oder ein Versagen auf der ganzen Linie. Bruckner selbst hat in seiner offenen, aber leider zu wenig rigorosen Art einmal gemahnt; 'Daß er's mir ja net zu schnell nimmt, meine Sachen vertragen amal ka schnell's Tempo'. Man kann Bruckner kaum ruhig genug nehmen- ruhig bedeutet ein inneres, kein äusseres Tempo - immer vorausgesetzt, daß die Spannungen dadurch nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil gesteigert werden. Allerdings muß in dem Grade, in dem die Spannungen sich vergrößern, die präzision aller Einsätze (abgestoßene Sechzehntel usw.) wachsen, ja geradezu unerbittlich genau werden; sonst ist ein Durchhalten bis zum Schluß  unmöglich. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß, je langsamer ich mit den Jahren das Tempo halten konnte, ich desto größere Wirksamkeit aus allen Themen und Entwicklungen herausholen konnte."

"Nirgends wird das Fehlgreifen der Dirigenten in dieser Hinsicht so deutlich wie bei den großen Kraftsteigerungen Bruckners; sie sind von jeher ein Tummelplatz der wildesten Temperamentausbrüche, der tollsten Affektenladungen gewesen und sind es heute noch."

Links zu weiteren Texten

Wolfgang Krebs - Syntax - Höhepunktsgestaltung im 19. Jh.


© 2004 Lionel Tacchini